Text: Hans G. Schnabel
Im Englischen „(Rocky) mountain goat“ genannt, verdient dieses im Deutschen oft als Schneeziege bezeichnete Wild eher den Namen Schneegämse. Oreamnos americanus ist nämlich als nahe Verwandte der eurasischen Gämse (Rupicapra rupicapra) nicht den echten Ziegen, sondern den Bovidae Caprinae, also den Ziegenartigen zuzuordnen. Wie die Gämsen haben sie runde, relativ bescheidene, mehr oder weniger nach oben und hinten gebogene Hörner, die sich in beiden Geschlechtern ähneln. Böcke und Geißen heißen im Englischen „Billies“ und „Nannies“. In drei Unterarten kam die Schneegämse ursprünglich nur in Britisch-Kolumbien, Alberta, Yukon, den Nordwest-Territorien, Alaska, Montana, Idaho und Washington vor. Dazu fanden über die Jahre in den USA, von Kodiak im Norden bis östlich nach South Dakota und südlich nach Colorado und Utah, noch 33 Auswilderungen statt.
Die Schneegämse gilt nicht nur als Bergtier par excellence, sondern geradezu als Akrobat. Kein anderes Huftier in Amerika klettert besser. Aber selbst ein Kraxler mit solch kurzen, stämmigen Läufen, dem tiefen Schwerpunkt, den muskulösen Schultern eines Schwarzeneggers, flexiblen, griffigen und beinahe quadratischen, vorne hart-konkav, hinten weich-konvexen Hufen mit übergroßen Afterklauen kann sich einen Fehltritt leisten. Von Natur aus waren der Schneegämse schon immer ihre zum Teil brutal felsigen Rückzugsgebiete nicht nur zuverlässigster Verbündeter, sondern auch größter Feind. Obwohl Verluste durch Krankheiten und Raubwild, inklusive Bären, Pumas, Vielfraß, Wolf, Luchs und Adler, nachgewiesen sind, fordern Kletterunfälle, Schnee-, Eis- und Felslawinen sowie das Wetter den größten Blutzoll. Das doppelte Haarkleid aus Kaschmir-ähnlichem ...